Schiffsklau

Es ist wichtig im Leben, manches Mal die Perspektiven zu ändern. Starre Blickwinkel verhindern ein flexibles Auseinandersetzen mit dem Leben, den Menschen, den Dingen. Dabei reicht es auch einfach mal, sich einem anderen Element als der Erde auszusetzen. Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. Und aus der Luft wirkt unser Leben so klein und das tägliche Einerlei so unwichtig. Auch auf dem Wasser wird der Blick auf die Dinge anders und so verschiebt sich auch der Blick auf das eigene Leben. Daraus kann der Einzelne nur lernen und gerade Heranwachsende benötigen und WOLLEN diese verschiedenen Sichtweisen. Zugegeben nicht alle.

Lara und Klara sind engste Freundinnen und mit siebzehn Jahren bestrebt, neue Wege zu beschreiten. Sie werden zwar oft als Zwillinge beschrieben, aber unterschiedlicher als bei den beiden könnte ein Aufwachsen nicht sein. Klara kommt aus einer Arbeiterfamilie, die Mutter und der Vater kümmern sich mehr um den Biervorrat und den Fernseher, als um ihr Kind. Lara wächst behütet unter gefüllten Porzellantellerchen und einem immer gleich aussehenden gepflegten Vorgarten auf. Hier wird dem Kind alles geboten, doch Verständnis und Liebe sind, hier wie dort, nicht vorhanden.

Was wundert es, dass beide spontan eines Tages ein herrenloses Schiff besteigen und … eine Tat ergibt die andere, der Motor ist gestartet und schon ist das Schiff auf dem Fluss. Von Steuern, Navigation oder Schiffs-Verkehrs-Regeln haben die beiden keine Ahnung.

„Im Steuerhaus wedelte Karla wild mit den Armen. Was wollte sie Lara damit sagen? Oh Shit. Das seitwärts ausparkende Auto hatte, Zentimeter für Zentimeter, nun fast einen Meter zurückgelegt. Leider war dieses Auto kein Auto auf festem Boden, sondern ein Schiff in flüssigem Element. Dem konnte man nicht zu Fuß hinterher gehen! Lara war im Begriff, sich selbst stehen zu lassen. Oder die Freundin im Stich zu lassen. Oder das gerade erhörte Schiff allein zu lassen. Oder alles zugleich zu lassen. Nein! Heute wollte sie endlich einmal nichts auslassen. Und vor allem nicht stehen bleiben.“

Karla war schon immer die aktivere, Lara ist die hübschere, weiblichere. Beide verbindet auch die Sehnsucht nach dem, was die Andere hat. Lara möchte aufsässig sein, Karla hübsch. Eine typische Freundschaft in diesem Alter. Doch nun geht die Reise los. Die NOORDJE schippert auf dem Fluss bald recht souverän, unter allen anderen Schiffen. Tatsächlich sehen die gewohnten Bauten und Landschaften vom Wasser betrachtet, anders aus.

„Die Gallier überlebten, ihre grüne Wildnis nicht. Weite Wiesen und einsame Stege gab es nicht mehr: Die Bahnbrücke war das eiserne Tor zu menschlicher Hochkultur. Dahinter wurde sogar der Fluss eingemauert. Die Häuschen mutierten in stattliche Gebäude und rotteten sich heimtückisch zur Massenversammlung.“

In der Folgezeit müssen die beiden so manche Hürde auf dem Fluss überwinden. Schleusen sind zu durchqueren, Schiffe zu umfahren und das Anlegen an Land will geübt sein. Irgendwann mal ist auch der Tank leer. Zum Glück tauchen ein Binnenschiffer und sein verführerischer Matrose auf, der Karla um den Verstand bringt, der aber leider nur Augen für die kurvenreiche Lara hat. So kämpfen sie sich den Fluss hinauf und erleben eine spannende Reise, auch in ihrem Inneren verändern sich die Blickwinkel.

Doch was geschieht mit den Eltern?

„Karlas Mutter erkannte den Blechdeckel. Der blutkrustenrot verklebte Erdbeerrand stach wie ein Dolch durch ihre Pupillen bis ins Bewusstsein. Karla aß jeden Tag Marmelade. Niemals bekam Marmelade die Gelegenheit einzutrocknen. Unbenutzte Marmelade offenbarte die ganze Tragweite der Situation. Sie wollte die Erkenntnis unter Sofakissen verstecken. Sie wollte sich selbst vollends in den Sofakissen vergraben. Nur ein Wort strampelte aus der Tiefe ihrer Sofakissen an die Oberfläche: ‚Aber… aber… aber…'“

Auch hier passieren viele innere Veränderungen.

Rega Kerners zweites Buch gewinnt langsam an Fahrt, die geschilderten Kämpfe der beiden Mädchen mit dem ungewohnten Schiffsumfeld ermüden anfangs etwas, da viele Wiederholungen beschrieben werden, doch mit dem Auftauchen des Binnenschifferkapitäns und der erotischen Verwicklung mit dessen Matrosen wird es für mich als Leser packender. Die Autorin hat einen schönen lyrischen Stil, spart aber nicht an direkten, deftigen Kraftausdrücken, was das Buch für mich sehr abwechslungsreich macht. Eine sehr bewegte und farbig ausgeschmückte Reise der beiden Mädchen und es bleibt abzuwarten, wie das zweite oder sogar dritte Buch der beiden Ausreißerinnen sich gestaltet.

 

Wer Schiffe klaut, kriegt nasse Füße von Rega Kerner ist 2018 bei Edition Falkenberg erschienen. Nähere Infos zum Buch über einen Klick auf das Cover im Beitrag oder auf der Verlagsseite.

 

 

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